Inhaltsverzeichnis:
Flexibilität als Grundlage
Konstruktion einer Bedarfsmoral
Kann man alle Werte begründen, hat man keine
Inkonsequenz ist kein Fundament!
Die Zehn Gebote
1. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben
2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen
3. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!
4. Ehre deinen Vater und deine Mutter
5. Du sollst nicht morden
6. Du sollst nicht die Ehe brechen
7. Du sollst nicht stehlen
8. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen
9. und 10: Du sollst nicht begehren ...
Fazit
Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst
Flexibilität als Grundlage
Was die Gebote des Alten Testaments angeht, besitzt das Christentum die größtmögliche Flexibilität: Die Befehle können nach Belieben akzeptiert oder für irrelevant erklärt werden. Zwar sagt Jesus deutlich:
Als Gegenargument wird die folgende Textstelle angeführt:
Dort steht zwar, Jesus sei der Herr über den Sabbat. Daraus wurde die Vorstellung, dass die Gebote den Leuten dienen sollten und dass darüber sie entscheiden und nicht Jesus. Nicht alle Personen, sondern nur die Bischöfe der Kirche.
Man kann [Atran 2004] vollumfänglich beipflichten: Religiöse Moral vereinigt zwei widersprüchliche Funktionen. Zum einen ein festes Fundament, bei dem die Wertvorstellungen als eine unverrückbar verlässliche Basis erscheinen. Zum anderen die Flexibilität, die Regeln nach Belieben zu dehnen und zu biegen, um sie Situationen und Bedürfnissen anzupassen.
Konstruktion einer Bedarfsmoral
Man kann nach Bedarf, die erste der oberen beiden Textstellen oder die zweite anführen. Das erschwert es, zu bestimmen, was »christliche Werte« sind. Dann ist die Frage, ob man lieber die schriftlich fixierten Moralvorstellungen nimmt oder das, was gelebt wurde? Und von wem? Von Katholiken oder Protestanten? Von der Masse der Gläubigen oder von Einzelnen?
Es ist klar: Je mehr Flexibilität man erlaubt, umso leichter fällt es, das Christentum als Grundlage unserer heutigen, europäischen Werte zu nehmen. Umso beliebiger und schwammiger wird es gleichzeitig, weil man zugleich die Wertvorstellungen zur Basis einer engstirnigen, kriegerischen Sklavenhaltergesellschaft wie einem modernen Rechtsstaat verwenden kann. Tatsache ist, dass beides gleich gut begründet werden kann. Das Christentum ist den überwiegenden Teil seiner Geschichte benutzt worden, die Leitbilder einer despotischen, monarchistischen, kriegerischen Sklavenhaltergesellschaft zu begründen und sie zu legitimieren.
Christlich legitimiert wurden den überwiegenden Teil der Zeit Dinge, die sich mit einer modernen europäischen Gesellschaft nicht im Mindesten vertragen. Beispiele: Monarchie/Alleinherrschaft, Adel, Frauenunterdrückung, Folter, Todesstrafe, Sklaverei, Kinderarbeit, Antisemitismus, Rassismus, Kreuzzüge, Ketzerverbrennungen, Bücherzensur, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Zinsverbot und vieles andere mehr.
Kann man alle Werte begründen, hat man keine
Wenn man meint, dass man heutzutage das Wertefundament eines modernen europäischen Rechtsstaats bilden kann, beweist das die nahezu rückgratlose Flexibilität der Werte, die man an alles anpassen kann. Ich würde beispielsweise nicht dagegen wetten, dass sich das Christentum in 50 Jahren feiert, weil es die grundlegende Wertvorstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe »garantiert«.
Christliche Werte umfassen ein breites Spektrum. Man kann sagen, dass sich eine völkermordende tyrannische Sklavenhaltergesellschaft ebenso wie ein moderner europäischer Rechtsstaat auf ein »christliches Fundament« berufen kann. Beide lassen sich gleichermaßen legitimieren. Die Flexibilität besitzen die humanistischen Menschenrechte nicht. Was bedeutet, dass sie sich besser als eine verlässliche Basis eignen. Man kann mit verbalem Hokuspokus die Grundrechte aus dem Christentum ableiten, ebenso das exakte Gegenteil auf dieselbe Weise.
Man fragt sich, warum sich die »christlich legitimierbaren Menschenrechte« erst spät durchsetzten, und erst, nachdem die politische Macht der Kirchen durch die Kirchenkritik der Aufklärung begrenzt wurde. Ich halte eine Wertebasis, aus der man alles und sein Gegenteil begründen kann, für nutzlos und sinnlos.
Der moderne, demokratische Staat braucht anders als die frühere Monarchie kein Christentum für seine Legitimierung oder um seine Werte zu »garantieren«. Die Anerkennung erfolgt durch das Volk, ob eine Kirche daran beteiligt ist oder nicht spielt nicht die geringste Rolle. Die Zeiten, in denen der Staat eine kirchlich-christliche Legitimation benötigt, sind seit der letzten Kaiserkrönung durch einen Papst vorbei. Die Menschenrechte berufen sich aus gutem Grund nirgendwo auf das Christentum oder christliche Werte und bedürfen keiner »christlichen Begründung«.
Warum? Weil das Christentum keine Basis hat, seine eigenen Werte zu begründen. Das habe ich in Probleme monotheistischer Moral ausführlich gezeigt. Um als Fundament dienen zu können, müsste man zeigen, wie man konsistent Werte ableitet. Darin versagt das Christentum.
Die Moral und die Werte eines modernen Staates entstehen, in dem sich das Volk demokratisch darauf einigt. Woraus die Werte abgeleitet werden, spielt keine Rolle mehr. Mag sein, dass eine Gesellschaft die biblisch-christlich begründete Sklaverei vorübergehend übernimmt. Wenn man als »das Volk« alle mündigen Staatsbürger meint, wird man die Idee eines Tages überwinden. Spätestens zu dem Zeitpunkt kann niemand behaupten, dass man hier ein »christliches Fundament« hat, genau das hat man überwunden. Es ist eine seltsame ↑Logik, dass man die »Überwindung christlich begründeter Werte« zu einer Art »christlicher Wertebasis« stilisiert.
Inkonsequenz ist kein Fundament!
Würde man es konsequent gestalten, müsste man feststellen, dass alle unsere Werte heidnischer Natur sind. Schon aus dem Grund, weil dem Christentum solche folgerichtige Denkweisen fremd sind, kann es nicht die Basis unserer Werte bilden.
Es ist eher so: Mal abwarten, in welche Richtung sich die Werte der Gesellschaft entwickeln. Wir können nach der Entscheidung, gleich, wie es ausfällt, die »christliche Begründung« dank unserer flexiblen interpretationsweise nachliefern. Sie wollen eine Sklavenhaltergesellschaft, die Andersdenkende gnadenlos umbringt? Wir liefern nachträglich die Rechtfertigung und das Fundament! Sie wollen eine menschenfreundliche Demokratie? Wir liefern nachträglich die Rechtfertigung und das Fundament!
Es gibt weniger eine »christliche Moral« als eine nachträgliche Rechtfertigung (Rationalisierung) der vorhandenen Moral, der man den Stempel »christlich« aufdrückt – [Boyer 2009] bezeichnet das als den Kern religiöser Moral. Klar ist, dass man der aktuellen Moral ein Stück hinterherhinkt. Daraus bezieht man seine Kritik. Christliche Moralkritik der katholischen Kirche beschränkt sich auf: Warum macht man es nicht so, wie wir es vor 100 Jahren für richtig befunden haben? Das bedeutet, dass sich fast jede moralische Neuerung gegen das Christentum durchsetzen muss.
Die Zehn Gebote
Fragt man nach »originär christlichen Wertevorstellungen«, dann bekommt man meist zwei Antworten:
- Die Zehn Gebote aus dem AT
- Das Doppelgebot der Liebe von Jesus im NT
Beides sollte, wenn man es nachprüft, Hinweise auf die christlichen moralischen Fundamente unserer Gesellschaft liefern, oder? Nun gibt es verschiedene Versionen der Zehn Gebote, siehe →Zehn Gebote. Weil die Katholiken die Mehrheit der Christen bilden, nehme ich die katholische Version:
1. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben
Das ist ein klarer Verstoß gegen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Wie viele Götter jemand verehrt, ob keinen, einen oder Dutzende, ist die Privatsache eines jeden Individuums. Unsere Gesellschaft erlaubt es nicht, anderen Vorschriften zu machen. Das gilt für das Bilderverbot, das einen Verstoß gegen die Kunstfreiheit gebietet.
Unsere Verfassung gebietet die Religionsfreiheit. Aus dem Grund ist das erste Gebot ein Verstoß gegen unsere durch die Verfassung garantierten Rechte.
2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen
Verstößt gegen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und die Verfassung.
3. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!
Kleine Erinnerung: Der Sabbat reicht von Freitagabend bis Samstag abends. Ganz klar keine Grundlage unserer Gesellschaft, auch, wenn man ihn auf den Sonntag verlegt.
4. Ehre deinen Vater und deine Mutter
Das ist keine Grundlage unserer Werteordnung. Es wurde ersetzt durch Elternrechte und -pflichten. Was ist mit Kindern, die von ihren Eltern missbraucht werden? Sollen sie trotzdem Vater und Mutter ehren?
5. Du sollst nicht morden
Das ist in der Tat ein Gebot unserer Gesellschaft – wie aller anderen, die nichts vom Christentum gehört haben, wie von Gemeinschaften, die lange vor dem Christentum existiert haben. Wenn ein Gebot vorchristlichen Ursprungs ist, kann es zwar christlich gemacht werden, hat somit eine andere Grundlage, die auch die unserer Gesellschaft ist.
6. Du sollst nicht die Ehe brechen
Kein Gebot unserer Gesellschaft, nicht mehr die Grundlage unserer Werte. Das gilt vor allem für das Begehren, die Erweiterung von Jesus.
7. Du sollst nicht stehlen
Hier gilt dasselbe wie zu dem 5. Gebot. Man braucht keine Religion, um zu bemerken, dass Morden und Stehlen dem Wohlergehen der Masse gegenüberstehen. Nicht mal ein Dieb möchte in einer Gesellschaft leben, in der Stehlen erlaubt ist.
8. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen
Das ist das Gebot, gegen das am Häufigsten in allen Gesellschaften verstoßen wird, wenn man darunter versteht: »Du sollst nicht lügen«. Generell ergibt das Gebot keinen Sinn, nur in bestimmten Situationen, etwa vor Gericht. In der Form kennen es alle, ebenso vorchristliche Gesellschaften.
Versteht man darunter »Verleumdung«, so ist das bei uns verboten. Wir hätten einen Treffer.
9. und 10: Du sollst nicht begehren ...
Man sollte nicht die Frau eines anderen begehren, noch sein Eigentum – dazu zählen Sklaven ebenso wie Vieh oder andere Güter. Damit ist die Sklaverei gerechtfertigt – klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Dast Begehren ist nicht das Problem, im Grunde basiert unsere Ökonomie darauf, dass man dieselben Güter wie andere besitzen möchte. Man darf sie dem anderen nur nicht stehlen, was im 7. Gebot schon ausgeschlossen wurde.
In Probleme monotheistischer Moral habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass Gott nicht als Vorbild taugt. Wenn es etwa heißt »Du sollst nicht morden«, in der Bibel gleich anschließend zum Krieg und zur Ermordung der Amalektiter aufgerufen wird, ist das entweder inkonsequent oder bedeutet eine gravierende Relativierung: Du sollst keine Mitglieder Deines eigenen Stammes ermorden. Andere darfst Du umbringen! Stammesmitglieder kannst Du hinrichten, wenn sie gegen das Sabbatgebot verstoßen, anderen Göttern huldigen, Hexerei betreiben oder die Ehe brechen. Und als Gott kann ich Genozid begehen und in der Sintflut alle Menschen, inklusive Frauen und Kinder, ersäufen, nach meinem Belieben. Oder wie bei Hiob Personen aufgrund einer Wette abschlachten. Moralgebote gelten entweder universell, oder man betreibt einen Relativismus. Das, obwohl gerne angeführt wird, christliche Werte seien nicht zeitgeistlich relativistisch. Was nicht stimmt.
Das gilt für das Stehlen in gleichem Maße, in der Bibel werden die Israeliten ausdrücklich aufgefordert, beim Krieg die Frauen der Besiegten zu rauben und als Sklavinnen zu besitzen. Das macht Menschen zur Kriegsbeute, ein doppelt unmoralischer Diebstahl, der Mord voraussetzt.
Fazit
Es gibt nur zwei, maximal drei Gebote, bei denen man sagen kann, dass sie die Grundlage unserer Gesellschaft bilden: 5. und 7 und eventuell 8. Für alle gilt, dass sie sowohl vorchristlich und nicht rein christlich sind. Das ist eine magere Ausbeute. Wenn man gutwillig und großzügig ist, kann man behaupten, 30 % der Gebote gelten für unsere Gesellschaft, nur sind die nicht originär christlich. Der Rest stellt teilweise einen Verfassungsbruch dar, oder ist irrelevant.
Das zweite Problem: Gebote sind keine Werte!
Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst
Das ist eine moralische Maxime, kein Wert, an der sich Christen ebenso wenig orientieren wie Nichtchristen. Als Doppelgebot, dass man Gott lieben sollte, verstößt es gegen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit.
Man kann behaupten, dass daraus die Idee der Caritas abgeleitet werden kann, und dass die Unterstützung der Armen und Schwachen eine christliche Vorstellung ist. Zugleich muss man zugeben, dass es eine Moralvorstellung des Judentums ist, wie die Zehn Gebote.
Es ist ein christliches Prinzip, wie man sehen kann, sich Werte etc. von anderen Religionen und Philosophien »auszuleihen« und zu beteuern, dass es originär christliche Gebote seien. Man plündert die Menschenrechte, konstruiert eine hanebüchene Interpretation von ein paar sorgfältig ausgewählten Bibelstellen, fertig ist ein »christlicher Wert«. Man könnte sagen: Ideendiebstahl und Umetikettierung ist definitiv ein christlicher Wert, mehr als alle anderen.
Begründet wird das bei uns nichtreligiös, so dass fraglich ist, ob wir die christliche Religion brauchen. Radikaler als im Christentum ist die Vorstellung im Kommunismus angedacht, oder im Sozialismus: Hier geht es nicht darum, Almosen zu verteilen, sondern die Menschen insgesamt in den Stand zu versetzen, keine milden Gaben zu benötigen! Sozialismus/Kommunismus mögen gescheitert sein, das Projekt bleibt.
Ich hoffe, dass der willfährig gottlose Gott, den sich die Kleriker gehalten haben, nicht mehr als Möglichkeit zur Befreiung des Menschen ausgegeben werden kann. Von einem solchen Gott kommt keine Freiheit. Er ist, selbst Schöpfung aus Angst, Mit-Schöpfer erniedrigender Angst unter den Menschen.
Horst Herrmann
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