Inhaltsverzeichnis:


      Psychologie der Börsianer
         Menschliches Handeln dient der Erlangung von Kontrolle
         Börse und die Elimination des Zufälligen
            Ein Essay über die Tücken des Nicht-Wissen-Wollen-Könnens

 

Psychologie der Börsianer

Ein Aspekt sollte beleuchtet werden: Warum glaubt die Mehrheit der Börsianer daran, dass Können und wirtschaftliches Wissen an der Börse entscheidend sind? Mit einem Hang zur Boshaftigkeit kann man eine analoge Frage stellen: Warum glauben Systemspieler beim Roulette an den Erfolg ihres Systems?

Die Komplexität menschlicher (z. B. gesellschaftlicher) Systeme liegt außerhalb des Horizonts menschlichen Verstehens. Wenn eine solche Organisationsform begriffen wird, würde das in einer Rückkoppelung das Verstandene beeinflussen. Das Ganze passt sich an und ändert sich. Das macht ein erneutes Erforschen und Verstehen notwendig. Das und andere Effekte, wie z. B. die Erkenntnisse von Gödel lassen Kritiker vermuten, dass das »menschliche System« sich selbst nicht wird erkennen können. Das Verständnis müsste Bestandteil des Systems sein. Soweit will ich hier nicht gehen, ich betrachte hier nur ein menschliches Teilsystem. Es gibt Einwände gegen die Auffassung, menschliches Denken etc. sei prinzipiell nicht verstehbar _1_.

Man muss verstehen, was menschliches Handeln antreibt. Verkürzt gesagt ist es die Antizipation des Gewinns von Kontrolle über die eigenen Lebensumstände, d. h. die vorsorgliche Absicherung unserer sinnlich-vitalen Grundbedürfnisse, die uns motiviert. Das Streben nach Kontrolle ist prinzipiell ein unendlicher Prozess: Es gibt kein »genug« an Kontrolle.

 

Menschliches Handeln dient der Erlangung von Kontrolle

Ein Gewinn an Kontrolle lässt sich umschreiben als eine Elimination des Zufälligen. Das Streben ist eine starke, wenngleich unbewusste Triebfeder, stärker als unsere schwache Ratio. Wir brauchen nicht zu wissen, dass wir nach Kontrolle streben: Wir tun es instinktiv. Hier vollzieht sich ein großer Teil unseres eigenen Handelns quasi »hinter unserem Rücken«. Es war der Verdienst von Sigmund Freud, das festgestellt zu haben, vor allem in Form der Angstabwehrmechanismen: die zweite kopernikanische Wende. Zuerst war der Mensch aus dem Zentrum des Universums verstoßen worden, mit Freud wurde er aus dem Zentrum seines eigenen Handelns vertrieben. Eine Zumutung, ein Ärgernis, ein notwendiger Denkanstoß.

Die Elimination des Zufälligen lässt sich bei alltäglichen Wahrnehmungen feststellen: Man werfe ein paar zufällig gestreute Farbkleckser auf ein Blatt Papier und frage jemanden, was er darauf sehen kann. Nach kurzer Zeit der Betrachtung wird der Beobachter dort Gestalten erkennen können. Das Zufällige wurde eliminiert. Auf dieselbe Art sind die Sternkreiszeichen entstanden. Wenn unser Handeln dem Zufall unterliegt, wird das als tragisch empfunden: Die großen Dramen der Weltgeschichte bauen ihren Spannungsbogen darauf auf, dass der Held oder die Heldin durch zufällige Ereignisse (als »Schicksal« bezeichnet) in einen Strudel gezogen wird. Aus dem kann er oder sie sich nur durch Geschick, Mut, Können usw. usf. befreien. Oder nicht, dann handelt es sich um eine Tragödie. Und das Schicksal wird nicht als Zufall interpretiert, sondern als Wirken unheimlicher oder schwer bis nicht verstehbarer, dunkler Mächte betrachtet. Die Gestalt des Zufälligen bekommt eine Form verliehen.

Je intelligenter man ist, und je mehr man weiß, umso eher wird man im Zufall ein (schicksalhaftes?) Muster erkennen können. D. h. was ein simples Gemüt korrekt als zufällig erkennt, wird von intelligenten Menschen in ein nicht zufälliges Muster uminterpretiert. Intelligenz kann ein Wegweiser in die falsche Richtung sein!

Anfällig für die Leugnung des Zufälligen sind wir, wenn wir Erfolg haben. Nahezu alle erfolgreichen Spiele bauen auf einem simplen Prinzip auf: Sie sind eine Mischung aus Glück und Geschicklichkeit. Gewinne ich, schreibe ich es meiner Geschicklichkeit zu, verliere ich, hat mich mein Glück verlassen. Man kann das Spiel verlieren, ohne sein Gesicht zu verlieren.

 

Börse und die Elimination des Zufälligen

Das Spiel Börse basiert auf demselben Prinzip. Ich gewinne, weil ich strategisches Geschick hatte, ich verliere, weil ich Pech hatte. Wenn sich der Markt aufwärts bewegt, gewinne ich langfristig mehr, als ich verliere.

Bill Gates könnte man schwerlich überzeugen, dass sein Vermögen ein Zufallsprodukt ist, selbst wenn man es wissenschaftlich exakt beweisen könnte: »selbstverständlich« ist Bill Gates davon überzeugt, das es ein Resultat seines übergroßen Könnens ist. Wenn wir Erfolg haben, dann weil wir es uns verdient haben. Bei Misserfolg ist Pech die Ursache. Je stärker der Erfolg, desto stärker der Glaube an die eigenen Fähigkeiten.

Das ist das Geheimnis, das alle Erfolgsbücher tunlichst verschweigen: Der Erfolg beruht in vielen Fällen auf Glück. Das gilt umso mehr, je weniger deterministisch das System ist, in dem wir Erfolg hatten. Ein Lottomillionär hat genau dasselbe Recht, auf sein Vermögen stolz zu sein wie der Inhaber einer Firma. Auf einen erfolgreichen Firmengründer kommen 999, die bei denselben Voraussetzungen, demselben Fleiß und derselben Disziplin gescheitert sind. Ober die wird nicht geredet: Wir sind eine Leistungsgesellschaft, und dort redet man nur über Erfolg. Misserfolg wie Glück sind keine Gesprächsthemen. Nur die Leistung zählt.

Hier ist eine Anleitung, wie man einen Roman schreibt, der ein Flop wird: Man lässt den Held durch Verstrickung oder Unfähigkeit oder Pech in eine missliche Lage geraten. Durch einen glücklichen Zufall entkommt der Held der unglücklichen Lage. Und hier das Rezept für eine erfolgreiche Geschichte: Der Held wird durch unglückselige Umstände in eine missliche Lage gebracht und schafft es, durch Geschick oder Können oder seine Fähigkeiten oder Wissen oder Intelligenz oder Gewitztheit, oder eine Kombination davon, sich daraus zu befreien. Eine Schilderung des ersten Typs will niemand hören! Bei der ersten Handlung hätte ich statt »Held« den Ausdruck »Protagonist« benutzen müssen, den die Beschreibung widerspricht der Definition des Helden. Vermutlich haben Sie die erste Anleitung mit einem gewissen Unmut gelesen.

Bei Spielen, bei denen die Zufälligkeit offensichtlich ist (Roulette, Lotto) gibt es genügend Leute, die an Geschick und Muster glauben. Bei Roulette sind es vor allem intelligente Menschen, die daran glauben. Und das beantwortet die eingangs gestellte Frage. Wer will die Antwort schon hören?

Hören … und begreifen wollen sind zwei Haltungen, die, wenn sie in Konflikt miteinander geraten, zugunsten des »Wollens« entschieden werden. Und jetzt erst können Sie verstehen, was ich mit dem Satz:

 

Ein Essay über die Tücken des Nicht-Wissen-Wollen-Könnens

gemeint habe. An der Börse wäre ein Glauben an einen blinden Zufall kontraproduktiv. Der Glaube ginge einher mit einem Kontrollverlust und wäre demotivierend. Individuen mit derartiger Einstellung werden keine Fondsmanager oder hören auf, solche zu sein. Das Nicht-Wissen ist ein essenzieller Bestandteil der Angelegenheit. Da der Börsenspekulant ein Ausgleichsfaktor für Zufallsverteilungen ist, er die Funktion umso effektiver erfüllt je weniger er daran glaubt, sich somit seine wesentliche Tätigkeit hinter seinem Rücken vollzieht, kann er es nicht wissen wollen.

Da Fondsmanager herausragend intelligente Menschen sind, mit einem Gefühl der Wichtigkeit der eigenen Person, wird ihre Verteidigung ihrer Position sowohl heftig als auch gescheit erfolgen. Nichtsdestotrotz funktioniert das Gesamtsystem Börse, obwohl die schlauesten Individuen dagegen anarbeiten. Der Widerspruch wäre zu erklären … Da jeder nach überdurchschnittlicher Performance strebt, und jeder ähnliche Methoden einsetzt, kann nicht jeder Erfolg ohne Mithilfe des Zufalls haben


1. Z. B. Wittgenstein sinngemäß: Man kann dem Denken keine Grenzen ziehen, man müsste sich der Grenze von zwei Seiten nähern – dem, was man weiß, und dem, was man nicht weiß, und letzteres ist unmöglich. Dazu müsste man wissen, was man nicht weiß. Zurück zu 1


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